Digitale Zwillinge für Smart Cities
„Wir müssen das Netz digitalisieren, damit wir die Energiewende schaffen.“
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Interview mit Haydar Mecit, Professor für urbane Energie- und Mobilitätssysteme am Institut für Elektromobilität der Hochschule Bochum, über den Aufbau, die Forschung und die Zukunft von digitalen Zwillingen für Smart Cities.
Was versteht man unter einem digitalen Zwilling für Smart Cities?
Wie der Begriff Zwilling schon verrät, handelt es sich um ein Abbild. In diesem Fall sprechen wir von einem digitalen Abbild eines Ausschnitts der realen Welt. Ein gutes Beispiel ist die 360-Grad-Kamera, eine Einparkhilfe neuerer Autos. Im Rückwärtsgang werden im Autodisplay nicht nur ein digitaler Zwilling des eigenen Autos aus der Vogelperspektive angezeigt, sondern auch Hindernisse aus der Umgebung. Der digitale Zwilling hat also den Vorteil, dass er Daten aus der realen Welt einbeziehen kann. In unseren Projekten machen wir uns das zunutze: Mithilfe von Virtual Reality haben wir ein Stadtgebiet digital dargestellt und können darin exakte Wetterdaten von diesem Gebiet anzeigen lassen.
Welche konkreten Herausforderungen können Städte mit einem digitalen Zwilling adressieren?
Der digitale Zwilling ermöglicht Vorhersagen in die Zukunft. Bleiben wir zunächst bei dem Stadtgebiet. Die Stadt kann diesen Zwilling zu ihrer Weiterentwicklung nutzen und etwa Bauvorhaben simulieren, um nachzuvollziehen, welche Auswirkungen ein neues Gebäude auf seine Umgebung hat. So können Planungsfehler rechtzeitig erkannt werden.
Du leitest aktuell die Projekte Smart City Living Labs Ruhr und SEGuRo – SEcure Grids for Redispatch 2.0. Auf welche Anwendungsfälle konzentriert ihr euch in diesen Projekten?
In beiden Projekten leisten wir auf gewissen Art Pionierarbeit, denn es gibt bisher keine Standards für digitale Zwillinge. Wir beschäftigen uns vor allem mit drei Bereichen einer Stadt: Smart Mobility, Smart Energy und Smart Environment. In dem Projekt Smart City Living Labs Ruhr verbinden wir etwa Wetterdaten mit energetischen digitalen Zwillingen von so genannten Prosumer Homes aus einem Herner Wohngebiet. Diese Gebäude verbrauchen nicht nur Energie, sondern produzieren auch welche mit Photovoltaik-Anlagen und speisen sie in eine Batterie ein. Wir wollen digital abbilden, wie viel Energie die Bewohnerinnen und Bewohner in einer Straße erzeugen, speichern und verbrauchen. Außerdem werten wir mithilfe des digitalen Zwillings Mobilitätsdaten der Stadt aus, um etwas über das Zusammenspiel von öffentlichem Nahverkehr und der Nutzung von E-Scootern zu erfahren. Im Projekt SEGuRo versuchen wir, ein ganzes Stadtareal, einen so genannten Netzabschnitt, zu digitalisieren. Auch dafür gibt es noch keine Standards.
Wofür brauchen wir die Digitalisierung des Stromnetzes?
Wir müssen das Netz digitalisieren, damit wir die Energiewende schaffen. Die Umstellung auf Energie aus erneuerbaren Quellen stellen neue Herausforderungen an das Stromnetz. Stromnetze funktionieren nach dem Prinzip des Ausgleichs. Wird mehr Energie eingespeist als gerade gebraucht wird oder umgekehrt, bedeutet das Stress für das Netz. Die Stromnetzbetreiber müssen also dafür sorgen, dass Abnahme und Verbrauch im Gleichgewicht sind. Da Wind und Sonne volatil auftreten, brauchen wir die Digitalisierung, um dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.
Wie kann der digitale Zwilling die Stadtwerke dabei unterstützen?
Wir wollen mithilfe eines echtzeitfähigen digitalen Zwillings belastende Situationen für das Netz simulieren, um an den entscheidenden Stellen nachbessern zu können. Vom Elektromast bis zur Steckdose wird der Strom im Netz mehrfach transformiert, so dass er für uns nutzbar ist. Dieses Netz versuchen wir darzustellen. Hier reden wir also von einem Abbild eines physikalischen Netzes, das anhand sehr vieler Messpunkte erfasst wird. Mithilfe dieser Messpunkte ermitteln wir anhand von Spannung und Frequenz die Netzlast einzelner Straßenabschnitte. Gerade die zunehmende E-Mobilität und der Trend weg von Gas und Öl hin zu Wärmepumpen können das Netz zusätzlich belasten, wenn etwa alle E-Autos einer Straße gleichzeitig aufgeladen werden. Wir wollen diese kritischen Netzzustände sichtbar machen, um gegensteuern zu können. Mithilfe des Zwillings können die Stadtwerke können erkennen, wo eine dickere Leitung oder eine zusätzliche Stromzufuhr in Form eines Ortsnetztransformators gebraucht wird.
Wohin könnte sich die Arbeit mit dem digitalen Zwilling entwickeln?
In Zukunft könnte der digitale Zwilling von den Stadtwerken dazu genutzt werden, bei Stress im Stromnetz direkt einzugreifen und beispielsweise Anlagen anweisen, ihren Verbrauch zu reduzieren. Aber das ist gerade noch Gegenstand der Forschung. Denn die Energiewelt entdeckt den digitalen Zwilling gerade erst für sich. Die Energiewende und jetzt vor allem die Energiekrise treiben Forschung und Entwicklung in diesem Bereich voran. Zusammen mit unseren Partnerinnen und Partnern aus Forschung und Industrie wollen wir einen Baustein erarbeiten, der als eine Blaupause für weitere Anwendungen dienen kann. Darüber hinaus wollen wir an der Normung und Standardisierung von digitalen Zwillingen für Energienetze mitarbeiten.
Wie verarbeitet ihr die Daten für den digitalen Zwilling?
Wir führen die Daten auf einer digitalen Plattform zusammen. Sie ist in etwa vergleichbar mit den Plattformen für unsere Smartphones wie IOS oder Android. Nach diesem Beispiel wäre der digitale Zwilling eine Anwendung, eine App, für die Smart City. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Datensicherheit. Wir reden bei Energienetzen von kritischen Infrastrukturen, deshalb denken wir die IT-Sicherheit schon bei der Messung mit. Das heißt, die Messdaten werden direkt am Gerät mit einem Kryptografie-Verfahren verschlüsselt und erst dann an die Plattform gesendet. So schützen wir das System vor Manipulation durch Hacker.
Wie profitieren die Bürgerinnen und Bürger vom digitalen Zwilling?
Sie profitieren eigentlich am meisten, wenn sie von der Energiewende gar nichts merken. Dass wir in Deutschland rund um die Uhr Strom haben, ist für uns selbstverständlich. Stromausfälle sind eine absolute Seltenheit. Damit das so bleibt und wir in Zukunft trotzdem vollständig auf Ökostrom zu bezahlbaren Preisen umsteigen können, brauchen wir den digitalen Zwilling oder zumindest Regelungen in Form von IT-Plattformen.
Welche Voraussetzungen muss eine Stadt erfüllen, um erfolgreich einen digitalen Zwilling aufzubauen und damit zu arbeiten?
Vor allem muss der Wille zur digitalen Transformation da sein. Bisher gehörte das nicht zu den Aufgaben von Städten, daher sind ihre Ressourcen für solche Sonderthemen häufig begrenzt. Dabei gibt es in einer Stadt viele Abläufe, die gut digitalisiert werden können, wie etwa das Kataster, wovon wiederum die Erstellung eines digitalen Zwillings abhängig sind. Aber Wille allein reicht nicht, Städte brauchen genügend Mittel, um die richtigen Fachleute einzustellen. Es gibt verschiedene Wege, einen digitalen Zwilling aufzubauen. Mein Team und ich setzen im Sinne der Öffentlichkeit auf Open-Source-Anwendungen, die die Städte nutzen und nach ihren Bedürfnissen anpassen können. So laufen sie nicht Gefahr, sich von Monopollösungen abhängig zu machen, auf deren Entwicklung sie keinen Einfluss nehmen können.
Wäre es möglich, dass digitale Zwillinge in Zukunft selbstständig Entscheidungen treffen?
Dieses Szenario ist im Moment noch Science Fiction. Und ich wäre hier äußerst kritisch, denn dann stünden wir vor ähnlichen Fragen, wie sie aktuell im Bereich selbstfahrender Autos diskutiert werden: Wer entscheidet über Leben und Tod, wenn eine KI das Auto steuert und ein Unfall unausweichlich ist? Im Bereich digitaler Zwilling für Smart Cities sind wir von solchen Fragen weit entfernt. Zum einen haben wir weder Standards für digitale Zwillinge, noch werden sie mit KI-Systemen in Verbindung gebracht. Für uns ist der digitale Zwilling vor allem ein Tool zur Zusammenarbeit und zur Bürgerbeteiligung. So können etwa Baupläne digital als Simulation zugänglich gemacht werden, so dass die Menschen einer Stadt die Pläne nicht nur kennenlernen, sondern auch interaktiv damit umgehen können.
Welche Rolle spielen die Bürgerinnen und Bürger in euren Projekten?
Wir wollen Technologie für den Menschen machen. Daher spielen die Bürgerinnen und Bürger eine zentrale Rolle für uns. Wir wollen sie durch die Nutzung digitaler Angebot incentivieren, nachhaltiger zu handeln. Zum Beispiel wollen wir mithilfe eines Punktesystems sichtbar machen, welchen Nachhaltigkeitsbeitrag sie leisten, wenn sie etwa den Bus anstelle des Autos nehmen. Wir haben festgestellt, dass Menschen motivierter sind, sich nachhaltig zu verhalten, wenn sie die Wirkung ihres Handelns nachvollziehen können.
Prof. Dr. Haydar Mecit
Haydar Mecit ist seit 2019 Stiftungsprofessor für urbane Energie- und Mobilitätssysteme am Institut für Elektromobilität der Hochschule Bochum. Nach seinem Diplom als Informatiker hat er in verschiedenen Positionen eines Technologiekonzerns in den Bereichen Mobilität, Elektrifizierung und Digitalisierung gearbeitet und interdisziplinär zu Innovationsprozessen F&E betrieben. Veränderungen komplexer Systeme, wie der Sektoren Mobilität und Energie, interessieren ihn besonders und haben seinen beruflichen Werdegang ausgemacht. Dementsprechend reizen ihn Forschungs- und Entwicklungsprojekte sowie internationale Kooperationen in den Bereichen Elektromobilität, Smart Grids und Ladeinfrastrukturen. Dazu gehört auch die Entwicklung neuer Produkte und Services zu zukünftigen Business Models auf Basis von IT-Plattformen, Sensorik, Mobile Devices und Apps. Er ist Mitglied der FIWARE e.V., welche auf Open-Source-Basis die Entwicklung neuer, intelligenter Smart-City-Anwendungen fördert, und gehört hier der Leitung eines Expertenkomitees zu Smart Energy an.